Zwei Weltkriege, eine Weltmeisterschaft und ein Deutscher als Retter Englands: Warum Thomas Tuchel genau das ist, was die Three Lions brauchen, wollen wir euch in dieser Trainer-Analyse genauer beschreiben. Werden die Britten am Ende ein Loblied auf einen Deutschen singen? (Bild: IMAGO / Shutterstock)
Es ist die Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika, und ein Engländer bringt seinem Sohn in einem MTN-Werbespot die stolzeste Hymne von allen bei: „Two World Wars and one World Cup, England, England“, und zwar mit der Begeisterung, die nur die Engländer aufbringen können.
Dann, gerade als sie einen Aufzug voller deutscher Fans betreten, erstirbt das Lied auf seinen Lippen, und wie von den Fußballgöttern programmiert, nimmt sein Sohn es wieder auf. Der Vater hält dem Jungen den Mund zu, als würde er den Beginn eines Aufstandes unterdrücken. Es war lustig, wenn man bedenkt, was später im Turnier noch passieren wird.
📩 (1) new message from Thomas Tuchel. pic.twitter.com/ADTVUHpnRN
— England (@England) October 16, 2024
Die Rivalität mit Deutschland
Die Rivalität zwischen England und Deutschland - sie hat alles: Krieg, Geistertore und Karma. Der Höhepunkt war natürlich Geoff Hursts „war es oder war es nicht?“-Tor im Jahr 1966, das Deutschland den Sieg bei der Weltmeisterschaft verwehrte und England das einzige Stückchen Fußballruhm bescherte.
Im Jahr 2010 kam das Karma in Form von Manuel Neuer, der einen Ball, der eindeutig hinter der Linie war, cool wegschlug und England den entscheidenden Ausgleich verwehrte. Als ob die Geschichte sagen würde: „Ja, wegen des Tores von 1966... wir sind jetzt quitt.“
Wir schreiben das Jahr 2024, und die Fußballgötter haben wieder einmal ein Einsehen und ernennen einen Deutschen - Thomas Tuchel - zum englischen Nationaltrainer, nachdem sich Gareth Southgate in aller Form verabschiedet hat. Und die englischen Fans? Nun, sie sind nicht wirklich begeistert.
Einen Deutschen zum Trainer der Three Lions zu ernennen, ist doch ein bisschen so, als würde man einen Fuchs einladen, den Hühnerstall zu bewachen, oder nicht? Aber die Sache ist die: Tuchel könnte der perfekte Mann sein, um England wieder zum Ruhm zu führen, und zwar nicht auf die glückliche Art, sondern mit Können.
Thomas Tuchel. Our #ThreeLions head coach from 2025. 🏴
— England (@England) October 16, 2024
Tuchels mehr als nur ein Stereotyp
Das typische Bild von deutscher Effizienz ist etwas, das man mit Industriemaschinen oder Uhrwerken assoziiert. Und Tuchel? Nun, er ist so etwas wie die fußballerische Version davon. Aber er ist auch viel mehr als nur ein hochpressender, gegenpressender Maestro. Bei Chelsea hat Tuchel eine Mannschaft, die Tore wie ein Counter-Strike-Profi schoss, in weniger als sechs Monaten zum Europameister gemacht. Sie fragen sich jetzt vielleicht: „Was hat das mit England zu tun?“ Ziemlich viel, um ehrlich zu sein.
Englands Problem ist nicht die Qualität. Sie haben genug, um drei Nationalteams zu stellen. Das Problem war immer, wie man diese Teile zu einem harmonischen Ganzem zusammenfügt, und damit hatte Southgate am Ende seine Schwierigkeiten. Thomas Tuchel hingegen liebt es, dem Chaos eine Struktur zu verleihen. Er ist der Typ, der einen Raum voller verworrener Kabel betritt und ihn mit einem perfekt funktionierenden Heimkinosystem verlässt.
Seine Chelsea-Mannschaft hatte taktische Flexibilität vom Feinsten bewiesen. Diese Anpassungsfähigkeit ist etwas, das England dringend benötigt. Unter Southgate wirkten die Engländer oft vorhersehbar, ihre Formationen waren starr, Kreativität nicht vorhanden.
Tuchel hingegen geht mit Formationen um wie ein Kleinkind mit Legosteinen - er stellt sie immer wieder neu zusammen, je nach Situation. Er liest die Taktik des gegnerischen Trainers wie ein Scanner und hat wie ChatGPT sofort eine Antwort parat – Southgate war da eher wie ein Virus der eine teure Software lahm legt.
🚨🏴 England squad confirmed for the upcoming games, the last one before Thomas Tuchel era begins. pic.twitter.com/eKLlL2u911
— Fabrizio Romano (@FabrizioRomano) November 7, 2024
Positionsspiel: Englands neuer Ansatz für Kreativität
Erinnern Sie sich noch daran, wie Southgate oft den sprichwörtlichen Bus geparkt hat, wenn England gegen Spitzenteams antrat? Tuchel hat mehr drauf als eine veraltete Mourinho-Taktik. In seiner Philosophie dreht sich alles um das Stellungsspiel, die Raumbeherrschung und die Kontrolle über das Spiel. Unter Tuchel werden Spieler wie Trent Alexander-Arnold nicht nur Verteidiger sein, sondern auch Spielmacher. Vorbei sind die Zeiten, in denen Englands beste Spieler orientierungslos über den Platz stolpern.
Tuchels England wird wahrscheinlich Spieler sehen, die bestimmte Zonen besetzen, die Gegner aus ihrer Position drängen und Räume schaffen, die Spieler wie Phil Foden und Bukayo Saka ausnutzen können. Das ist weit entfernt von der starren, defensiv ausgerichteten Spielweise, die England oft „klein gehalten“ hat.
Apropos Stellungsspiel: Vergessen wir nicht, dass Tuchel bei Chelsea auf Außenverteidiger setzte. Reece James - wenn er nicht gerade im Lazarett verweilte - und Ben Chilwell waren für sein System unverzichtbar, da sie nach vorne marschierten und für Unruhe sorgten. England mit seiner Fülle an talentierten Außenverteidigern könnte von diesem Ansatz massiv profitieren.
Stellen Sie sich vor, Kieran Trippier und Luke Shaw oder Alexander-Arnold und Ben White würden ständig über die Flanken stürmen, die Verteidiger in die Breite ziehen und in der Mitte Raum für Tormaschinen wie Harry Kane schaffen.
Zielgerichtetes Pressing: Der Tuchel-Weg
Eine Sache, die man unter Tuchel erwarten kann, ist, dass England mehr auf ein hohes Pressing setzen wird. Southgates England hat sich oft zurückgezogen und sich damit begnügt, den Druck des Gegners zu absorbieren und die Mannschaften auszukontern. Tuchel spielt nicht auf diese Weise. Seine Mannschaften pressen zielgerichtet, aggressiv, intelligent und als Einheit.
Selten sieht man einen einsamen Stürmer, der wie ein kopfloses Huhn hinter den Verteidigern herjagt. Stattdessen ist das Pressing unter Tuchel koordiniert, eine Symphonie aus Druck, die Fehler erzwingt und den Ball in gefährlichen Bereichen zurückgewinnt.
Nehmen wir den Champions-League-Sieg von Chelsea im Jahr 2021 als Beispiel. Sie haben die Mannschaft in die Knie gezwungen, Passwege abgeschnitten und Fehler erzwungen. Spieler wie Declan Rice und Jude Bellingham, die bereits fantastische Ballgewinner sind, werden in Tuchels System noch wichtiger werden. Ihre Fähigkeit, Bälle zu erobern und Gegenangriffe zu starten, wird der Schlüssel zum Erfolg Englands sein.
🚨🏴 BREAKING: Thomas Tuchel has completed the agreement to become new England manager.
— Fabrizio Romano (@FabrizioRomano) October 15, 2024
Terms agreed, contract set to be signed with an official statement expected soon.
Tuchel opened doors to England job in July and it’s now a done deal, as @TimesSport reported.
Here we go ✨ pic.twitter.com/3AjBrcjlIZ
Anpassung des englischen Angriffs: Von der Vorhersehbarkeit zum Spielfluss
Englands Angriff unter Southgate war zwar zeitweise effektiv, wirkte aber oft vorhersehbar. Man verließ sich zu sehr auf individuelle Glanztaten von Kane oder Bellingham. Tuchel hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass er flüssige, dynamische Angriffe kreiert. Seine Mannschaften bewegen sich im Gleichschritt, tauschen die Positionen und schaffen numerische Überzahl vor allem auf den Flügeln.
Für England bedeutet dies, dass Spieler wie Jack Grealish, Saka und Foden in einem System aufblühen könnten, in dem sie nicht nur auf festen Positionen spielen müssen. Bei Tuchels Chelsea zum Beispiel drifteten Spieler wie Kai Havertz und Mason Mount ständig in verschiedene Bereiche des Spielfelds, verwirrten die Verteidiger und schufen Raum für andere.
Kane, der oft dafür kritisiert wird, dass er sich zu tief fallen lässt, wird die Freiheit haben, als echte Nummer neun zu spielen oder sich ins Mittelfeld fallen zu lassen, wenn es nötig ist, in der Gewissheit, dass Flügelstürmer wie Saka und Foden den Raum, den er freimacht, nutzen werden.
Defensive Solidität: Der Grundstein von Tuchels Erfolg
Eine Sache, die man Tuchel nicht absprechen kann, ist seine Fähigkeit, eine solide Abwehr aufzubauen. Unter ihm könnte sich Englands Verteidigung verändern. Seine Dreierkette könnte England mehr Sicherheit geben, aber auch die Flexibilität, bei Bedarf auf eine Viererkette umzustellen.
Eine Dreierkette aus Stones, White und Maguire (oder Guehi) könnte die Grundlage dafür bilden, dass England aus der Abwehr heraus spielen kann, während es gleichzeitig defensiv eng bleibt. Und vergessen wir nicht, wie wichtig der Torhüter in Tuchels System ist. Jordan Pickfords Verteilungsvermögen, das oft übersehen wird, wird entscheidend sein, um Angriffe schnell einzuleiten, was Tuchel zweifellos auszunutzen versuchen wird.
Warum er ein schief gelaufenes deutsches Experiment sein könnte
Nun, wir wollen nicht zu viel erwarten. Tuchel mag ein Genie sein, aber er ist auch dafür bekannt, dass er ein schwieriger Charakter ist. Seine Beziehung zum Vorstand des FC Chelsea war so harmonisch wie Pizza mit Nutella. Er hat sich auch mit Spielern gestritten, was die englische Boulevardpresse auf den Plan gerufen hat, denn diese liebt diese Art von Drama.
Und seien wir mal ehrlich, Englands Abwehr ist nicht gerade für ihre Ruhe unter Druck bekannt. Sicher, John Stones ist ein ballsicherer Innenverteidiger, aber können er und Harry Maguire mit der von Tuchel geliebten hohen Abwehrreihe zurechtkommen? Oder ist die Katastrophe vorprogrammiert? Die englischen Fans könnten Albträume davon bekommen, wie Maguire versucht, von hinten herauszuspielen, während er von einem schnellen, rücksichtslosen Gegner unter Druck gesetzt wird.
Und von den englischen Medien will ich gar nicht erst anfangen. Wenn Tuchel nicht sofort durchstartet, werden sie ihn bei lebendigem Leibe auffressen. Die Boulevardpresse hätte sicherlich Schlagzeilen parat wie beispielsweise: „Tuchel stürzt ein wie die Mauer von Berlin“. England hat vielleicht schon früher ausländische Manager akzeptiert, aber ein Deutscher an der Spitze? Das ist eine ganz andere Toleranz-Prüfung.
Eine große Frage ist auch, ob Tuchels Defensivphilosophie, die auf präziser Positionierung und unerbittlichem Arbeitstempo beruht, mit Englands aktuellem Kader effektiv umgesetzt werden kann. Es ist eine Sache, eine Abwehr in der Premier League mit endlosen Trainingseinheiten zu schulen, aber eine andere, dies in der komprimierten Zeitspanne der Länderspielpausen zu tun.
Thomas Tuchel had zero influence on Lee Carsley’s final England squad selection 🏴#england | #nationsleague pic.twitter.com/HqiZMapl8P
— Mirror Football (@MirrorFootball) November 7, 2024
Das Endspiel: Tuchels England könnte endlich über die Linie kommen
Seien wir ehrlich: Die englischen Fans haben es satt, immer knapp zu verlieren. Das WM-Halbfinale 2018, das EM-Finale 2021, das EM-Aus 2024 - sie alle waren grausame Erinnerungen daran, wie nah und doch so fern England vom fußballerischen Triumph ist. Doch die Ernennung von Tuchel könnte der Wendepunkt sein. Seine taktische Flexibilität, seine Anpassungsfähigkeit und sein Talent, das Beste aus seinen Spielern herauszuholen, machen ihn zum perfekten Mann, um England zur Weltmeisterschaft 2026 und zur Europameisterschaft 2028 zu führen.
Sicherlich wird man sich über die Ironie eines Deutschen lustig machen, der England zu Ruhm und Ehre führt, aber ist das nicht ein Teil der Schönheit des Fußballs? So wie Englands Geistertor von 1966 Deutschland bis zu Neuers „Nicht-Tor“ 2010 verfolgte, ist Tuchel vielleicht hier, um das Drehbuch umzudrehen.
Am Ende könnte es ein Deutscher sein, der England zu seiner zweiten Weltmeisterschaft führt. Und wenn das passiert, wird der Vater aus der MTN-Werbung vielleicht endlich ohne zu zögern „Zwei Weltkriege und zwei Weltmeisterschaften und ein Deutscher“ singen.