Was macht man, wenn aus einer Achterbahnfahrt auf einmal Abfahrtski wird? Und man bei fortschreitendem Misserfolg sogar droht den letzten Lift zu verpassen, der einen wieder nach oben auf die Bergspitze führt? Dies sind die Fragen, die sich der VFL Wolfsburg, wie auch nicht zuletzt der VW-Konzern, aktuell stellen müssen. Dabei natürlich im Blickpunkt: Trainer Paul Simonis. Allerdings sollte sich insbesondere auch seitens des Konzerns vielleicht auch irgendwann mal die Frage stellen, ob die Probleme bei den Wölfen nicht eigentlich viel viel tiefer gehen. Diesen Problemen, möglichen Lösungen und inwiefern Paul Simonis überhaupt der Hauptschuldige für die Krise ist wollen wir uns nun widmen.
(Bild: IMAGO / Christian Schroedter)
Fehlender Fansupport:
Denn ähnlich wie Borussia Mönchengladbach befindet sich auch der VFL Wolfsburg nun auch schon seit Jahren in einem schleichenden Niedergang - vom ehemaligen deutschen Meister zu einer dieser vielen grauen Mäuse, die Jahr für Jahr irgendwo im Tabellenmittelfeld der Bundesliga vor sich hintappeln.
Hier gibt es allerdings einen entscheidenden Unterschied: Während bei den Fohlen selbst in dieser schwierigen Saison die Fans immer hinter ihrer Mannschaft standen, und sie mit im Schnitt 50.000 Zuschauern anheizten, sind es beim VFL Wolfsburg grade mal 23.000 Zuschauer im Schnitt, die sich die aktuelle Leistung ihrer Mannschaft im eigenen Stadion böse gesagt "antun".
Erst vorige Woche brach man mit unter 10.000 Zuschauern im verlorenen DFB-Pokalspiel gegen den Zweitligisten Holstein Kiel (Endstand 0 : 1) sogar einen neuen Negativrekord.
Dies mag vielleicht, sollte es mal ganz brenzlig werden, sogar ein kleiner Vorteil sein (denn selbst im Fall eines Abstiegs wären Bilder, wo Spieler wie im Falle Schalke von Fans um den Arenaring gejagt werden völlig unvorstellbar).
Allerdings zeigte insbesondere auch die Abstiegssaison von Schalke 04 (wo man aufgrund der Corona-Maßnahmen komplett ohne Zuschauer spielen musste) wie auch der anschließende Wiederaufstieg vor über 60.000 Mann, wie sehr ein ausverkauftes Stadion einer Mannschaft auch helfen kann.
Und das Problem des fehlenden Fansupports und mangelnder Identifikation begleitet den VFL Wolfsburg leider schon seit Jahren, wie auch Beschwerden von Fans über unattraktiven Fußball und schlechte Stimmung im Stadion.
Alles wie immer.
— 𝙑𝙛𝙇.𝙒𝙊𝙇𝙁𝙎𝘽𝙐𝙍𝙂.𝙉𝙀𝙒𝙎 (@Wobscorer) August 31, 2025
So nimmst du die Zuschauer nicht mit. Das Gegenteil ist der Fall.
Ich verstehe es einfach nicht.
Zuhause einfach die Plüschwölfe von letzter Saison. Die Stimmung genauso.
Was aber kann man dagegen tun? Denn natürlich ist Wolfsburg mit rund 130.000 Einwohnern nur eine eher kleine Stadt, zuzüglich hat man in der näheren Umgebung mit Hannover, Braunschweig und Magdeburg auch noch drei absolute Traditionsvereine im näheren Umfeld, hat also aufgrund der Konkurrenzsituation auch nicht die Möglichkeit, die z.B. Kaiserslautern (nur 102.000 Einwohner) hat - ein Verein zu sein, der nicht für eine einzelne Stadt, sondern für eine ganze Region steht.
Und da liegt das Hauptproblem. Wenn nicht durch regionale Verbundenheit, wie schafft man dann Identifikation?
Da gibt es dann eigentlich nur noch vier Möglichkeiten.
Sportlicher Erfolg:
Hier hat der VFL Wolfsburg durchaus eine Historie, die für einen Verein aus so einer kleinen Stadt sogar ziemlich beeindruckend ist. Eine deutsche Meisterschaft (2009), ein DFB-Pokal-Sieg (2015), wie auch sechs deutsche Meisterschaften + 2 Champions-League-Titel, welche die Frauenmannschaft abgreifen konnte.
Nur haben diese Erfolge bei Wolfsburg bei den Männern mehr und mehr "Opa erzählt vom Krieg" Vibes. Seit der Saison 2020/21 unter Oliver Glasner erreichte man nicht ein einziges Mal mehr die Champions League, die darauffolgenden Ergebnisse waren Platz 12, Platz 8, Platz 12, Platz 11 und aktuell wieder Platz 12.
Dies ist bei einem Kader, der rein von seinem Marktwert immer auf einem Europaplatz stand, natürlich viel zu wenig.
Hier muss also auch definitiv in Sachen Transferplanung noch eine Menge passieren, denn aktuell muss man leider sagen: Große schillernde Namen wie Christian Eriksen hin oder her, das Preisleistungsverhältnis stimmt bei vielen Transfers überhaupt nicht.
Hier nur einige Beispiele von Wolfsburg-Transfers der letzten zwei Jahre und wie viel man für sie bezahlt hat:
- Lovro Majer (25 Millionen Euro)
- Andreas Skov Olsen (14 Millionen Euro)
- Joakim Maehle (12.5 Millionen Euro)
- Konstantinos Koulierakis (12.5 Millionen Euro)
- Vinizius Souza (11,75 Millionen Euro)
- Mohamed Amoura (14,75 Millionen Euro)
Und hier liegt das eigentliche Hauptproblem: ALLE diese Spieler sind Teil des aktuellen Kaders, Teil eines Kaders, der - sollte es keine Kehrtwendung geben - sogar in den Abstiegskampf taumeln könnte.
Selbst bei Vereinen mit nochmal weitaus höherem Etat wie Borussia Dortmund wäre bei so vielen Transfers in der Preisklasse längst die Hölle los, sollte davon nicht zumindest einer mal wirklich einschlagen. Und Stand jetzt muss man leider sagen, dass keiner dieser Transfers (mit Abstrichen Amoura und Koulierakis) bislang wirklich eingeschlagen oder die Mannschaft auf konstantem Level bereichert hat.
Und die Riesenfrage, die sich mir stellt: Wo bleibt da das Scouting? Mehr Transfers, wie z.B. der von Aaron Zehnter, den man für nur 4 Millionen Euro diesen Sommer aus Paderborn geholt hat: Junge Spieler, die noch nicht jeder auf dem Schirm hat und die Wolfsburg zumindest als mögliche Startbahn sehen, sich für die ganz große Bühne zu empfehlen.
Dieses Leipzig-/Hoffenheim-Modell - einfach eine Zwischenstation für aufstrebende junge Talente zu sein - könnte doch auch für Wolfsburg ein absolut lukratives Geschäftsmodell sein.
Identifikationsfiguren:
Dazu brauch aber auch ein Verein wie der VFL Wolfsburg unbedingt Identifikationsfiguren, Spieler, wegen denen man ins Stadion geht - Trainer, auf deren PKs und Interviews man sich freut. Selbst Hoffenheim hat diese Figuren mit Oliver Baumann, Andrej Kramaric und (so polarisierend er auch sein mag) auch Dietmar Hopp und sogar Leipzig hatte sie zumindest jahrelang mit Spielern wie Youssouf Poulsen, Emil Forsberg und Timo Werner, von anderen Vereinen wie Bayern München (Thomas Müller) oder Borussia Dortmund (Marco Reus) ganz zu schweigen.
In Wolfsburg gibt es hier lediglich: Maximilian Arnold - und das war's. Der Kapitän der Mannschaft spielt bereits seit 2009 beim VFL Wolfsburg und blieb trotz vieler lukrativer Angebote seit jeher dem Verein treu.
Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, er wäre neben Christian Günther (SC Freiburg) wahrscheinlich einer der wenigen Kapitäne, die aktuell mit ihrem Verein sogar in die zweite Liga gehen würden.
Warum aber nicht mehr davon? Das Beispiel Maximilian Arnold könnte man doch seitens des Vereins perfekt vermarkten und als Vorbildstory auch für junge Spieler nehmen. Hierbei sollte man vor allem auch mal beleuchten: Was ist, was den Verein für Maxi Arnold so stark macht.
Gibt es vielleicht doch, abgesehen vom Gehalt, viele Gründe, warum sich auch ein Leben in dieser Region lohnt (abgesehen von der Bahnstrecke nach Berlin, wie Julian Draxler einst frech behauptet hat)?
Selbst mir fallen hier auf der Stelle mehrere gute Gründe ein, als junger Spieler zum VFL Wolfsburg zu wechseln: Eine solide Ausbildung für junge Spieler in einem medial eher ruhigen Umfeld, eine gute Zwischenstation für Leihen, die bei ihrem vielleicht noch größeren Club grade keine Spielzeit bekommen (das Elversberg-Modell), wie auch ein bunter und moderner Verein, der nicht zuletzt auch nach wie vor eines der Flaggschiffe in Europa im Frauenfußball ist und hier absolute Legenden wie Almuth Schult und Pernille Harder hervorgebracht hat.
Next step: 🇺🇸!
— VfL Wolfsburg Frauen (@VfL_Frauen) April 6, 2022
Almuth Schult wird ab der kommenden Saison für den @weareangelcity auflaufen! Almuth, wir gönnen dir diese besondere Erfahrung von ganzem 💚, auch wenn wir dich sehr vermissen werden!#VfLWolfsburg pic.twitter.com/Tw7qwxRKBw
Auf diese Stärken sollte man m.E. bei der Verpflichtung von jungen Talenten setzen statt sich als "Kleinstadtverein ohne echten Fansupport" künstlich selbst klein zu machen.
Und damit kämen wir zum dritten Punkt, wo wir dann auch zwangsläufig die Trainerpersonalie Paul Simonis besprechen müssen. Denn was hat RB Leipzig grade in den Anfangsjahren immer ausgezeichnet und dafür gesorgt, dass der Verein als von vielen mindestens sehr kritisch gesehener absoluter Nicht-Traditionsverein trotzdem sein Stadion vollbekommen hat? Die Antwort ist:
Attraktiver Fußball:
Und hier müsste man sich aus Seiten des VFLs eigentlich nur wieder seinen alten Stärken bewusst werden, war dies doch einst der (!) Grund, warum in der Erfolgszeit unter Felix Magath und Dieter Hecking so viele Leute auch bundesweit auf einmal Wolfsburg-Fan wurden: Großartige Dribbler, spannende Persönlichkeiten und absolute Highlight-Spieler, wie Edin Dzeko, Grafite, Zvezdjan Misimovic oder auch Kevin de Bruyne - Spieler, wegen denen man gerne ins Stadion kam und wo man gespannt darauf war, welchen furiosen Trick diese als nächstes auf dem Rasen auspacken könnten.
Diese Spieler fehlen dem VFL Wolfsburg jetzt allerdings auch schon seit vielen Jahren. Warum hat Wolfsburg keinen Said El Mala oder Fisnik Asllani, einen Spieler, der auf einmal aus der eigenen Jugend hoch kommt und alle begeistert? Und wenn es schon nicht die eigene Jugend ist, warum scoutet man nicht mal wieder wirklich explizit auch nach solchen Spielern - Spielern, die ein Stück weit auch die Historie vom VFL Wolfsburg ausmachen, die das Publikum begeistern und dadurch endlich mal wieder für ein halbwegs volles Stadion sorgen? Denn die finanziellen Mittel dafür hätte man doch.
Der Grund hierfür ist aber ganz klar:
Spielphilosophie
Denn das Fehlen genau dieser, gepaart mit einer absoluten Trainerinkonstanz, ist nämlich das eigentliche Problem des VFLs. Gefühlt hat man in Wolfsburg aktuell weniger denn je auch nur irgendein langfristiges Konzept, welchen Fußball man spielen möchte und welchen Trainer es dafür brauch.
Angefangen mit Mark van Bommel, den man nach wenigen Monaten schon wieder rauswarf und der eigentlich nur dadurch auffiel, dass er nicht wusste, wie viele Spieler man einwechseln darf, worauf dann mit Florian Kohfeldt ein Trainer verpflichtet wurde, der zumindest bei Werder Bremen für attraktiven Ballbesitzfußball und menschliche Nähe zu den Spielern stand. Auch dieses Kapitel ging schief.
Was kam dann: Ausgerechnet Niko Kovac, ein Schleifer, der selbst aus Borussia Dortmund eine absolute Arbeitertruppe gemacht hat, die lieber ein 1 : 0 über die Zeit bringen als womöglich noch eine 4 : 2 Führung zu verspielen, ob die Fans nun drüber maulen oder nicht. Auch dieses Kapitel ging aber völlig in die Hose.
Wolfsburg are still trusting coach Niko Kovač despite a record of one win in 8 games, and an uninspiring performance against Köln (1-1) yesterday. However, the Hoffenheim game next Sunday will decide about the 52-year-old's fate, report @BILD_Wolfsburg. https://t.co/ipya14NL3A
— Bundesliga Latest (@BL_LatestNews) January 28, 2024
Und was macht man, wenn sowohl Ballbesitzfußball als auch Malocherfußball schief geht: Man holt sich last but not at least Ralph Hasenhüttl in den Verein, einen Trainer aus der RB-Pressing-Schule, der ergo nochmal für eine ganz andere Spielerphilosophie steht - und das wohl gemerkt alles zu einer Zeit, wo man nahezu jährlich weit über (!) 30 Millionen Euro für Transfers ausgab.
Und in dieses Chaos wurde dann schließlich Paul Simonis gesteckt, der fliegende Holländer - oder wie Fans ihn auch nannten - der Gouda-Guardiola. Vorgabe der Vereinsführung höchstwahrscheinlich: Ja, mach uns mal irgendwie wieder erfolgreicher. Wir wissen zwar nicht wie, aber du machst das schon. So zumindest fühlt es sich rückblickend an, wenn man auf die Verpflichtung und die aktuellen Ergebnisse schaut.
Paul Simonis halten oder nicht?
Und damit kämen wir zur Kernfrage des Artikels: Wieviel Schuld an der aktuellen Wolfsburg-Krise trifft überhaupt Paul Simonis?
Beziehungsweise - was willst du als junger Trainer, der bis auf einen Pokalsieg in den Niederlanden mit den GoAheadEagles noch keinen Titel gewonnen hat, machen, wenn du einen Kader vorgesetzt bekommst, der nicht nur überteuert und unausgewogen ist, sondern zum Teil von drei Trainern mit völlig unterschiedlichen Spielphilosophien trainiert wurde. Natürlich versuchst du erst mal von allem ein bisschen in das Spiel der Mannschaft zu implementieren und nicht zu sehr ins Risiko zu gehen.
Und dies zeigt sich leider auch den in den Statistiken, wo der VFL Wolfsburg (im Gegensatz zu Mannschaften wie Union oder Freiburg) leider in keiner Statistik wirklich gut ist, ob defensiv oder offensiv. Hier ein kleiner Überblick:
- Torschüsse: Platz 12 (108)
- Passquote: Platz 12 (82,3 %)
- Ballbesitz: Platz 14 (47 %)
- Gewonnene Zweikämpfe: Platz 12 (806)
- Gewonnene Kopfballduelle: Platz 11 (157)
- Laufdistanz: Platz 8 (1073)
Diese Zahlen beweisen: Es fehlt das Wissen über Fragen wie "Was sind unsere Stärken? Wo haben wir anderen Bundesligisten was voraus? Wo könnte es unangenehm werden gegen uns zu spielen?"
Ein Problem, was Paul Simonis direkt betrifft, ist allerdings ist die Kommunikation nach Außen. Gefühlt gibt es immer noch viele Bundesligafans, die sich fragen: Wer ist der Mann überhaupt? Wofür steht er? Hier ist er ein Stück weit das glatte Gegenteil von Sandro Wagner, wenn man es so will.
Hinzu kommt, dass man unter ihm enge Spiele nicht zieht. Bis auf den mehr oder weniger glücklichen 1 : 0 Sieg den HSV (einer von zwei Siegen in dieser Saison bislang), verlor man bis auf die beiden Pleiten gegen Stuttgart (0 : 3) und Augsburg (1 : 3) jedes weitere Spiel immer mit einem Tor Unterschied, nicht selten aufgrund von späten Gegentreffern.
Der Mannschaft fehlt es aktuell total an Durchhaltevermögen und Glauben an sich selbst, das, was z.B. Dortmund seit dem Amtsantritt von Niko Kovac so stark macht oder auch Leverkusen in der Meistersaison auszeichnete.
Und da liegt für mich die Kernfrage: Glaubt die Mannschaft aktuell wirklich an sich? Und vor allem - glaubt sie an ihren Trainer? Hierfür kann ich euch keine eindeutige Antwort geben, denn dafür müsste ich in der Kabine dabei sein. Was aber klar ist:
Sollte Simonis tatsächlich entlassen werden und danach schon wieder irgendein neues wildes Experiment ohne eine langfristige Strategie verpflichtet werden, müssen auch die Personalien Sebastian Schindschielorz und Peter Christiansen hinterfragt werden, die am Ende für Spieler- und Trainerentscheidungen verantwortlich sind.
Solange bleibt zu hoffen, dass die Wölfe in den nächsten Wochen wieder in die Spur finden und nicht irgendwann sogar der VW-Konzern selbst dazu gezwungen ist aufgrund von mangelnder Erfolgsperspektive den Totalumbruch beim VFL einzuleiten.
Denn dort hat man ja bekanntlich auch grade ganz andere Probleme. :)



