Über Jahre war die Linksverteidigerposition die größte Baustelle im Kader der Three Lions. Ashley Cole prägte die Position in den 2000ern, und Leighton Baines spielte ebenfalls lange auf einem sehr hohen Niveau. Seit deren Rücktritt haben mehrere Spieler versucht, diese Position zu ihrer eigenen zu machen – allerdings vergebens. Nun kommt aber eine neue Generation, und England hat plötzlich ein Luxusproblem. (Bild: IMAGO / Alterphotos)
Historisch gesehen hat die englische Nationalmannschaft immer gute Linksverteidiger gehabt: Ray Wilson, der 1966 den bisher einzigen WM-Titel für die Three Lions gewann, Kenny Sansom, der in den 80ern über 80 Länderspiele sammelte, oder auch Stuart Pearce, der vor allem bei den Fans sehr beliebt war und sich durch seine Spielweise den Spitznamen „Psycho“ verdiente. Er lief 78-mal für die englische Nationalmannschaft auf.
Mit Ashley Cole hatte man in den 2000ern einen der besten Linksverteidiger seiner Generation zur Verfügung, doch seit seinem Rücktritt 2014 herrscht dort ein Mangel.
Verletzungen verhinderten den nahtlosen Übergang
Luke Shaw war prädestiniert dafür, die nächste Generation zu prägen. Als Ashley Cole aus der Nationalmannschaft zurücktrat, war Shaw gerade einmal 19 Jahre alt, aber wechselte bereits zu Manchester United und sammelte seine ersten Länderspiele. Alles sprach für eine große Karriere für Verein und Nationalmannschaft. Allerdings machten ihm Verletzungen einen Strich durch die Rechnung.
Mit gerade einmal 20 Jahren, in seiner zweiten Saison bei den Red Devils, wurde er Opfer eines Horrorfouls, das zu einem doppelten Beinbruch führte. Er war fast ein komplettes Jahr außer Gefecht, und auch nach seinem Comeback machte ihm die Verletzung mental zu schaffen, sodass er lange den Erwartungen hinterherblieb. Zur EM 2020 und der WM 2022 spielte er sich schließlich wieder in den Kader Gareth Southgates und war eine feste Größe auf der linken Seite – doch kleinere Verletzungen bremsten ihn immer wieder. Er sammelte bisher 34 Länderspiele für England, aber es hätten deutlich mehr sein sollen.
Unreal from Luke Shaw to come back from a double leg break to being one of the most consistent fullbacks in the league 👏
— FootballJOE (@FootballJOE) February 20, 2023
Shaw in 2018: “At the time they were thinking about flying me back. But if I’d flown back, I would probably have lost my leg because of the blood clots." pic.twitter.com/I2Knkl2VtT
Chaos bei der EM 2024
Gareth Southgate schien bei seinem letzten Turnier für die Three Lions keine Lösung für die Linksverteidigerposition zu finden. Kieran Trippier spielte die meisten Minuten auf der für ihn ungewohnten linken Seite, aber auch Luke Shaw, Ezri Konsa und sogar Bukayo Saka mussten dort aushelfen. Abgesehen von Shaw war auch kein weiterer gelernter Linksverteidiger im Kader, und jener war aufgrund einer Verletzung nicht komplett fit.
Die neue Generation
Luke Shaw hatte auch aufgrund der mangelnden Konkurrenz lange einen Freifahrtschein unter Gareth Southgate, aber nun, unter Thomas Tuchel, gibt es reichlich Alternativen – und die haben es in sich.
Fangen wir an mit dem Namen, der zurzeit in aller Munde ist: Myles Lewis-Skelly. Der 18-Jährige spielt in dieser Saison stark auf und überzeugt mit einer beeindruckenden Konstanz und Reife. Er spielte schon in den größten Stadien, wie dem Santiago Bernabéu im Champions-League-Viertelfinale, und zeigt sich völlig unbeeindruckt. In den wichtigen Spielen zählt er stets zu den besten Spielern im Team der Gunners. Im März durfte er bereits sein Länderspieldebüt geben und traf prompt nach 20 Minuten. Eigentlich ein zentraler Mittelfeldspieler, aber unter Mikel Arteta zum Linksverteidiger umgeschult, könnte er diese Position auch in der Nationalmannschaft zu seiner eigenen machen.
🏴💎 Myles Lewis-Skelly (18) vs Real Madrid…
— EuroFoot (@eurofootcom) April 8, 2025
• 100% tackles won, 2/2
• 100% successful dribbles, 1/1
• 95% pass accuracy
• 4 ground duels won
• 3 recoveries
• 2 chances created
• 1 assist pic.twitter.com/K3YmmlXjtd
Allerdings ist er nicht konkurrenzlos. Der nächste im Bunde ist Lewis Hall von Newcastle. Der 20-Jährige ist ebenfalls zu Beginn seiner Karriere vom zentralen Mittelfeldspieler zum Linksverteidiger umgeschult worden und blüht auf dieser Position auf. Nach beeindruckenden Kurzeinsätzen für seinen Jugendverein, den FC Chelsea, wechselte er im Sommer 2023 für 33 Millionen zu den Magpies. Nach einer schwierigen ersten Saison entwickelte er sich in dieser Spielzeit zum absoluten Leistungsträger und zu einem der besten Linksverteidiger der Liga. Thomas Tuchel scheint ein Fan von ihm zu sein – schließlich gab er ihm sein Debüt bei den Blues im Januar 2022.
"Ich war 17 bei Chelsea, als ich zum ersten mal mit der Mannschaft trainierte, und ich erinnere mich daran, wie er [Thomas Tuchel] und sein Trainerstab mich sehr willkommen hießen"
Bei Manchester City erlebt gerade ein weiterer zentraler Mittelfeldspieler als Linksverteidiger seinen Durchbruch: Nico O'Reilly, 20 Jahre alt, durfte nun die letzten sieben Spiele allesamt starten und überzeugt mit sehr starken Leistungen. Der 1,93 m große Allrounder überzeugt mit seiner Technik in engen Räumen, aber auch mit seinem Defensivverhalten. Trotz der für ihn unbekannten Position zeigt er kaum Schwächen und erweist sich sogar als torgefährlich – mit bisher fünf Saisontreffern.
Nico O’Reilly’s been balling out for @ManCity in the #EmiratesFACup this season 🩵 pic.twitter.com/tqZ3qqdOt6
— Emirates FA Cup (@EmiratesFACup) May 1, 2025
Oliver Scarles ist ein weiterer Name, den man auf dem Zettel haben muss. Der 19-Jährige, ebenfalls gelernter Mittelfeldspieler, durfte bereits mit 16 Jahren in der Conference League unter David Moyes sein Debüt geben. Allerdings war es die Ankunft von Graham Potter im Januar, die den englischen Jugendnationalspieler zum festen Bestandteil des Profikaders aufsteigen ließ. Unter dem vorherigen Trainer Julen Lopetegui gab er sein Premier-League-Debüt, aber unter Potter wurde er zum Stammspieler und zahlt dieses Vertrauen auch mit guten Leistungen zurück. Beim 1:0-Sieg gegen den FC Arsenal im Emirates wurde er sogar zum Spieler des Spiels gekürt. EM- und Champions-League-Sieger Emerson Palmieri hat er mittlerweile von der Linksverteidigerposition verdrängt.
Dort hört es aber nicht auf, denn mit Harry Amass steht der nächste talentierte Jungspund in den Startlöchern. Der 18-Jährige durfte unter Ruben Amorim bereits sein Debüt für Manchester United geben, und auch er überzeugte. Eine Nominierung für die englische Nationalmannschaft ist zwar noch weit entfernt, aber er ist definitiv ein Talent, das man im Auge behalten sollte.
Harry Amass was brilliant last time out.
— cold pics of Manchester United (@utdsnaps) April 26, 2025
Would you start him tomorrow over Luke Shaw?
I definitely would.
Yes or No? 👀 pic.twitter.com/zJdEds6q9O
Eine etwas erfahrenere Option ist Tyrick Mitchell von Crystal Palace. Der 25-Jährige bringt seit Jahren konstante Leistungen für die Eagles, wurde aber bisher kaum für die Three Lions berücksichtigt. Er kommt auf gerade einmal zwei Länderspiele. Seit Oliver Glasners Ankunft im Februar 2024 spielt er als Schienenspieler in einer Fünferkette eine offensivere Rolle und überzeugt als Vorlagengeber. In der Defensive war er schon immer sehr gut, weshalb sich das Eigengewächs von Crystal Palace zu einem immer kompletteren Spieler entwickelt.
Insbesondere in Anbetracht der prekären Situation auf der Linksverteidigerposition bei der Europameisterschaft 2024 war es umso erstaunlicher, dass Gareth Southgate ihn nicht berücksichtigte – vor allem aufgrund seiner starken Form zum Ende der vergangenen Saison.
Wer startet für England?
Im Moment führt wohl kein Weg an Myles Lewis-Skelly vorbei. Der Teenager überzeugt auf ganzer Linie und genießt bisher auch das Vertrauen von Thomas Tuchel. Allerdings ist auch Lewis Hall eine sehr starke Option, insbesondere wenn er sich weiterhin so entwickelt wie in dieser Saison.
Tyrick Mitchell hat seine Chance wahrscheinlich verpasst. Hätte er vor einem Jahr die Möglichkeit bekommen, wäre er wahrscheinlich ein fester Bestandteil des Kaders, doch mittlerweile haben ihm jüngere Spieler den Rang abgelaufen.
Nico O'Reilly und Oliver Scarles haben derzeit nur Außenseiterchancen. Beide kamen noch nicht zu allzu vielen Einsätzen und haben sich noch nicht vollständig etabliert, sind aber durchaus talentiert. Bei Harry Amass gilt Ähnliches, nur dass er erst zu einer Handvoll Pflichtspieleinsätzen kam. Allerdings ist auch er außerordentlich talentiert.