Bayer 04 Leverkusen hat es 2024 geschafft, zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte deutscher Meister zu werden. Doch nicht nur das, man legte damit auch endgültig den allseits bekannten Ruf und Namen „Vizekusen" ab. Doch was hat es damit genau auf sich? Ein Blick zurück in die Geschichte von Bayer 04 Leverkusen und das Jahr 2002. (Bild: IMAGO / WEREK)
„Vizekusen“ – Trauma oder Marke?
So ziemlich jeder wird dieses Gefühl schon einmal erlebt haben: Sei es das Gefühl sich für seinen Traumjob durch lange Bewerbungsrunden gequält zu haben, im allerletzten Moment den Job dann aber doch nicht zu bekommen oder das Gefühl in einer Schachpartie dem Gegner Dame und Turm abgetrotzt zu haben, um dann am Ende nur wegen einem kurzen Blackout die Partie doch noch zu verlieren.
Alle Fans von Borussia Dortmund werden sich an das Finale der Meisterschaft 2022/2023 erinnern, wo der Borsigplatz schon reserviert war, sämtliche Planungen für die anstehende Meisterfeier schon so gut wie abgeschlossen waren, um dann mit anzusehen, wie in den letzten Minuten ein gewisser Jamal Musiala im Parallelspiel das eine Tor schießt, wo es dann doch wieder hieß: Herzlichen Glückwunsch zur 11. Meisterschaft in Folge, Bayern München.
Der Schmerz sitzt immer noch tief 😢💔 pic.twitter.com/3WDmWa4LDT
— DAZN DE (@DAZN_DE) September 27, 2023
Auch Fans von Schalke 04 haben dieses Trauma im Jahr 2001 erlebt, im letzten Moment doch nur zum „Meister der Herzen“ gekürt wurden zu sein. Und dennoch hat den Fluch des ewigen Zweiten keine andere Mannschaft so hart erlebt, wie Bayer 04 Leverkusen im Jahr 2002. Denn jeweils nur ein einziges Spiel trennte das Team von Trainer Klaus Toppmöller in diesem Jahr davon, nicht nur die Meisterschaft zu gewinnen, sondern gleich alle drei bedeutenden Titel: Meisterschaft, DFB Pokal und sogar die Champions League.
Dieses sogenannte Triple aus Champions-League, nationalem Pokal und Meisterschaft war zuvor nur vier Mannschaften gelungen: Celtic Glasgow (1967), Ajax Amsterdam (1972), PSV Eindhoven (1988) und Manchester United (1999) und dennoch mussten sich die Leverkusener am Ende mit einer titellosen Saison abfinden.
Meisterkampf und DFB-Pokal
In der Bundesliga lieferte man sich zunächst einmal einen spannenden 5er-Kampf mit Borussia Dortmund, Bayern München, dem 1.FC Kaiserslautern und Werder Bremen. Nur sechs Punkte trennten die Mannschaften in der Hinrundentabelle, welche Bayer Leverkusen knapp mit 39 Punkten anführte. Erst zu Beginn der Rückrunde ließ man zum ersten Mal Federn. So verlor man hier gleich gleich drei von vier Spielen gegen Wolfsburg, Bayern, so wie auch gegen Schalke 04. Eine Serie von zehn ungeschlagenen Spielen brachte Leverkusen jedoch wieder in die Pole-Position um den Kampf um die Meisterschale, zumal zu diesem Zeitpunkt mit Dortmund und Bayern eigentlich nur noch zwei ernsthafte Konkurrenten übrig waren.
Doch dann kam der 20. April 2002, das Heimspiel gegen Werder Bremen, in welchem man trotz Führung von Zé Roberto plötzlich Panik bekam und das Spiel mit 1:2 zu verlor. Sollte der große Traum, die erste Meisterschaft in der Vereinsgeschichte, doch noch in Gefahr geraten? Beim Auswärtsspiel gegen Nürnberg (0:1) vergab man die Führung dann endgültig, weswegen es für den letzten Spieltag dann hieß: Nur noch ein Sieg sowie ein Unentschieden von Borussia Dortmund im Parallelspiel konnte die Meisterschaft noch retten. Den Sieg schaffte man dann zwar dank zweier Tore von Michael Ballack (2:1 gegen Werder Bremen), da aber Borussia Dortmund im Parallelspiel ebenfalls gewann, wurde man schließlich mit nur einem Punkt Abstand Zweiter.
Doch es sollte noch bitterer kommen: Denn nur eine Woche später verlor man das Endspiel im DFB-Pokal ebenfalls. Immerhin: Der ein Jahr zuvor ebenfalls im letzten Moment gescheiterte „Meister der Herzen“, Schalke 04, konnte schließlich mit 4:2 den Pokal gewinnen und wurde somit für die bitterste Niederlage in ihrer Vereinsgeschichte zumindest ein bisschen entschädigt. Was Leverkusen anging, waren nun aber natürlich alle Augen auf das Champions-League-Finale gerichtet. Hier wartete dann allerdings ausgerechnet Real Madrid.
With no Bundesliga football to look forward to today, we're going to revisit our #DFBPokal final in 2002 against Bayer Leverkusen! ⏪#S04 | #B04S04 pic.twitter.com/bWiUPErviR
— FC Schalke 04 (@s04_en) March 21, 2020
Der Traum vom Henkelpott
Das größte Wunder, was Klaus Toppmöller mit Leverkusen vollbrachte, war sicherlich dieser völlig überraschende Einzug ins Champions-League-Finale. Denn nur zur Erinnerung für alle Jüngeren unter uns: Wir reden hier von einer Zeit, wo die Beinahe-Galacticos Real Madrid (mit Zinedine Zidane, Luis Figo, Raul und dem Brasilianer Ronaldo in ihrer absoluten Prime) alles dominierten.
Zudem war da noch ein FC Barcelona, der sich, mit dem damals grade mal 18-jährigen Andres Iniesta, wie auch Rivaldo und Patrick Kluivert im Sturm, schon damals anschickte, über Jahre hinweg den besten Sturm der Welt zu haben, ein Manchester United unter Sir Alex Ferguson, was mit dem heutigen Manchester United ungefähr so viel zu tun hatte wie das Kulturgut von Matze Knop mit furchteinflößendem Gangsterrap – und nicht zuletzt der Titelverteidiger FC Bayern.
Niemand hätte vor dieser Saison auf Bayer Leverkusen gewettet. Dennoch ging man, abgesehen von einer 0:4 Klatsche gegen Juventus Turin ungeschlagen und als Erstplatzierter aus der Gruppenphase. Im Viertelfinale unterlag man dann zunächst dem FC Liverpool mit 0:1, kehrte dieses Ergebnis dann allerdings im Rückspiel mit 4:2 um, wobei vor allem der brasilianische Verteidiger und spätere Bayern-Star Lucio aufblühte. Im Halbfinale schaffte man es dann wenn auch knapp mit zwei Unentschieden und dank der Auswärtstorregel gegen Manchester United schlussendlich ins große Finale von Glasgow.
#OnThisDay 🔙👀
— Bayer 04 Leverkusen (@bayer04fussball) April 9, 2020
🗓 9. April 2002
🏆 @ChampionsLeague
🆚 @LFC
Wer erinnert sich an das Viertelfinal-Rückspiel gegen Liverpool und an unsere Startelf?🧐#UCL | #Werkself | #Bayer04 pic.twitter.com/owml7rwc8T
Im Finale gegen Real Madrid war es dann schließlich Raul, der die Werkself gleich in der 8. Minute schockte. Allerdings dauerte es nur drei Minuten und wieder war es Lucio, der den Ausgleichstreffer hinlegte. Mit einem sehenswerten historischen Volley entschied dann schließlich Zinedine Zidane in der 45. Minute das Spiel für die Königlichen und der letzte Traum von einem Titel zerplatzte in Leverkusen in den weiteren 45 Minuten wie eine Seifenblase.
War es hier möglicherweise auch schon der Frust über die beiden anderen verlorenen Titel, insbesondere der Meisterschaft, weswegen hier am Ende die letzten Körner fehlten? Viele Experten sagen heute, dass für Leverkusen mit einem anderen Mindset in dieser zweiten Halbzeit sogar mehr gegangen wäre. So aber sollte es einfach nicht sein und der Verein musste ganze 22 Jahre warten bis ausgerechnet Real-Madrid-Ikone Xabi Alonso den „Vizekusen“-Fluch brach.
Zinedine Zidane 🆚 Bayer Leverkusen pic.twitter.com/AnaM7HVUt2
— Out Of Context Real Madrid (@rmanocontext) May 24, 2024
Der Kader:
Dennoch bleibt die Frage: War der Kader von 2002 nicht möglicherweise sogar noch besser als der aktuelle Leverkusen-Kader? Bereits erwähnte Superstars wie Michael Ballack, Zé Roberto und Lucio könnten das durchaus glauben machen. Hinzu waren neben Ballack gleich fünf weitere deutsche Nationalspieler im Kader der Leverkusener, die im selben Jahr bei der WM natürlich nur eins werden konnten: Vize-Weltmeister.
Auch der FC Bayern, allen voran Uli Hoeneß, schien gewarnt zu sein, dass hier neben Borussia Dortmund ein weiterer dauerhafter Bundesliga-Konkurrent heranzuwachsen drohte. So kaufte man – in bester Bayern-Manier – dem ungeliebten Kontrahenten mit Zé Roberto und Michael Ballack gleich mal zwei seiner drei besten Spieler ab.
Für Michael Ballack war die „Vizekusen“-Saison auch gleichzeitig seine Durchbruchssaison. Als entscheidender Motor im Mittelfeld glänzte er nicht nur als Regisseur und Antreiber, sondern war hinzu noch extrem torgefährlich. Günter Netzer bezeichnete ihn in dieser Zeit sogar als den „kopfballstärksten Spieler der Welt.“ Ballack brachte es in dieser Saison bei 50 Pflichtspielen auf insgesamt 23 Tore und 13 Vorlagen. Damit war er Leverkusens Topscorer und belegte mit 17 Bundesliga-Treffern hinter Martin Max und Marcio Amoroso (beide 18 Tore) den dritten Platz der Torschützenliste und wurde zuzüglich zu „Deutschlands Fußballer des Jahres 2002“ ausgezeichnet.
Michael Ballack in 2002:
— The Football Arena (@thefootyarena) September 29, 2024
❌ Lost the Bundesliga title in the last gameweek.
❌ Lost the German Cup final.
❌ Lost the Champions League final.
❌ Lost the World Cup final.
Michael Ballack in 2008:
❌ Lost the Premier League title in the last gameweek.
❌ Lost the FA Cup final… pic.twitter.com/vswXb4W7tC
Eine Menge Nostalgie werden Bundesligafans der älteren Semester sicherlich auch noch mit dem Namen Lucio verbinden. Der brasilianische Verteidiger, der in der Bundesliga sowohl für Leverkusen als auch für den FC Bayern auflief, gilt als herausragender Kopfballspieler und trug damit neben seinen beeindruckenden Fähigkeiten gegen den Ball mit wichtigen Toren, insbesondere in der Champions League, um Erfolg der Werkself bei. Auch er wechselte, allerdings erst 2004, zum FC Bayern München.
Im Sturm hingegen war es Ulf Kirsten, der zu diesem Zeitpunkt wohl so etwas war wie der Thomas Müller von Leverkusen. Ganze zwölf Jahre spielte er bereits für den Verein in dem er auch ein Jahr später seine Karriere beendete. Mit 181 Bundesligatreffern war er zudem zu dem Zeitpunkt bereits der fünftbeste Torschütze der Bundesligageschichte. Auch seine Mentalität und sein Kampfgeist, den er Spiel für Spiel hinlegte, machte den einst von Ede Geyer trainierten DDR-Nationalspieler aus Sachsen für die Elf aus dem Niederrhein unersetzlich.
Und sollte es auf der anderen Seite des Platzes mal gefährlich werden, war jedem Gegner klar, dass mit Kapitän und Libero Jens Nowotny im Zweifelsfall eher nicht gut Kirschen essen ist. Mit insgesamt acht Platzverweisen (fünf rote + drei gelb-rote Karten) ist er bis heute neben dem Brasilianer Luiz Gustavo der Spieler, der in der Bundesliga am häufigsten des Platzes verwiesen wurde. Doch auch sonst war Nowotny neben Ballack der wichtigste Motor in dieser Mannschaft.
Das machte es dann umso bitterer, dass ausgerechnet er sich im Halbfinale der Champions-League am Kreuzband verletzte und somit in allen drei verlorenen Finalspielen fehlte. Auch hier bleibt bis heute die Frage, wie die Leverkusen-Saison ohne diese Verletzung ausgegangen wäre. Zum Vergleich stelle man sich zum Beispiel vor, wie die Leverkusener Meisterschaftsaison 2023/24 ausgegangen wäre, hätte sich ein Granit Xhaka oder ein Florian Wirtz früh am Kreuzband verletzt.
Ähnliches gilt für Torwart Hans-Jörg Butt, wobei dieser Gott sei Dank unverletzt blieb. Der erfahrene Schlussmann, der von 2001 bis 2007 für Leverkusen spielte, war eine Schlüsselfigur in der Defensive. Mit seinen ausgezeichneten Reflexen und seiner Spielübersicht stellte er sich oft als sichere Bank heraus und half, das Team in kritischen Situationen zu stabilisieren.
Hinzu hatte Leverkusen mit dem (neben Hristo Stoichkov) wahrscheinlich bedeutendsten bulgarischen Fußballspieler aller Zeiten Dimitar Berbatov noch ein weiteres großartiges Talent in ihren Reihen. Damals erst 20 Jahre alt, entwickelte er sich in der Saison 2001/2002 immer mehr zum Führungsspieler und brachte Bayer Leverkusen im DFB-Pokal-Finale gegen Schalke 04 sogar zunächst in Führung.
Neben Lucio bewies auch Mittelfeldspieler Zé Roberto, warum Bayer Leverkusen noch viele weitere Jahre als „der Magnet in Deutschland für talentierte Brasilianer“ bekannt war, auch wenn dieser neben der brasilianischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft hatte. Hierbei mag es umso lustiger erscheinen, dass er in seiner Zeit bei der Werkself so auf Fußball fokussiert war, dass er es trotz deutschem Trainer verpasste auch nur ein einziges Wort deutsch zu lernen. Dies ging schließlich soweit, dass sein späterer Bayern-Mitspieler und Landsmann Giovane Elber damit drohte, in der Kabine nie wieder ein Wort portugiesisch mit ihm zu sprechen, wenn er nicht endlich die deutsche Sprache lernte.
Der Trainer, eine Inspiration für Guardiola?
Der Name Klaus Toppmöller mag vor allem Frankfurt-Fans ein Begriff sein. Nicht nur, dass er sowohl als Spieler als auch als Trainer dort zu den größten Vereinslegenden zählt, ausgerechnet sein Sohn Dino Toppmöller ist es, der sich als Drittplatzierter in der Bundesliga derzeit anschickt, die erste direkte Champions-League-Qualifikation in der Vereinsgeschichte zu schaffen. Interessant ist zudem, dass der gelernte Ingenieur für Versorgungstechnik einer der ersten war, der in Deutschland den bedingungslosen One-Touch-Fußball wieder etablierte, mit dem nur wenige Jahre später ein gewisser Pep Guardiola beim FC Barcelona durchstarten sollte.
Hinzu war Toppmöller extrem inspiriert vom Fußball der brasilianischen Nationalmannschaften und Verschiebungen der 5er-Kette. Auch die Aufgabe des Liberos interpretierte er insofern neu, als dass er diesem (in dem Fall Jens Nowotny) mehr und mehr Aufgaben gegen den Ball gab, was wiederum Mittelfeldspielern wie Michael Ballack weitaus mehr Freiräume in der Offensive gab.