Wir sind im Stadio Mario Rigamonti, der Heimspielstätte des italienischen Traditionsvereins Brescia Calcio. Ein elegant wirkender defensiver Mittelfeldspieler mit langen Haaren verzaubert die Fans im Stadion mit seinem magischen Passspiel. Diese Szene ist jedoch nicht aus den 90ern und handelt ebenso wenig vom jungen Andrea Pirlo. Nein, es geht um dessen legitimen Erben, einem Talent, nach dem sich sämtliche Topclubs in Italien die Finger lecken – es geht um Sandro Tonali!
Der Vergleich mit der ehemaligen Milan-Legende geht jedoch über die Haarfrisur des 19-jährigen Talents hinaus. Ähnlich wie der Weltmeister von 2006 startete Tonali seine Karriere in der Lombardei, wurde wie der Altmeister aus einem Offensivmann in einen tiefliegenden Spielmacher umgeschult. Im August 2017 debütierte der gerade mal 17-jährige Tonali im Serie-B-Spiel gegen Avellino und überzeugte bei seinen anschließenden Profiauftritten dermaßen, dass er auf Anhieb zum Stammspieler avancierte.
Ab dem folgenden Sommer 2018 sorgte der in Lodi geborene Italiener dann richtig für Furore. Im Rahmen der U19-Europameisterschaft führte der langhaarige Mittelfeld-Dirigent mit exzellenten Leistungen die „Azzurrini“ bis ins Endspiel und demonstrierte dabei eine wesentlich reifere Spielanlage als andere Talente seines Alters.
Dieser Hype wurde durch die anschließende Berufung in die „Squadra Azzurra“ durch Italiens Nationaltrainer Roberto Mancini befeuert, welcher sich persönlich von den ungeheuren Fähigkeiten des Ausnahmekickers ein Bild verschaffen wollte. Diese positiven Eindrücke transportierte Tonali mit in die Serie-B-Saison und hatte ganz entscheidenden Anteil daran, dass Brescia Calcio nach Jahrzehnten wieder erstklassig sein konnte. Zehn direkte Torbeteiligungen (3 Tore,7 Vorlagen) sind für einen defensiven Mittelfeldspieler durchaus beeindruckende Werte, vor allem für einen U19-Spieler!
Stärken:
Ein Spieler mit seinem Fähigkeitenprofil wirkt mit seiner lässigen und eleganten Art am Ball immer beruhigend auf seine Teamkollegen. Man könnte ihn als eine Art „Beruhigungstablette“ bezeichnen, die selbst in intensiven Pressing-Phasen des Gegners nie aus der Fassung gerät. Diese Eigenschaft ist sehr untypisch für Talente seines Alters und unterstreicht ungemein die mentale Reife des Youngsters.
Tonalis außergewöhnliche Technik, gepaart mit seiner Übersicht, ermöglichen ihm Schnittstellen-Pässe a la Pirlo auszuführen. Ob es darum geht in Ballbesitz zu bleiben, das Spiel aufzubauen, oder einen langen Diagonalball über den halben Platz zu „dreschen“ - Tonali besitzt alle technischen Attribute diese Aufgaben mit Bravour zu meistern.
Der aggressive Ballkünstler
Doch es wäre zu einfach diesen Rohdiamant nur auf das Passen zu beschränken, denn dessen Dribblingsskills sind gleichermaßen erwähnenswert. In 1-gegen-1-Duellen lässt er dem Gegner dank einer engen Ballführung und seines geschickten Körpereinsatzes kaum eine Chance. Diese Fähigkeiten sorgen dafür, dass Tonali auch unter Druck die Lücken des Gegners ausmachen und sie tödlich bespielen kann.
„Ich möchte eine Mischung aus der Klasse Andrea Pirlos und der „Boßhaftigkeit“ Gattusos sein.“ Diese Aussage beschreibt am besten die Ambivalenz seiner Spielweise. Denn gegen den Ball geht Tonali keinem Zweikampf aus dem Weg und haut gerne mal ordentlich dazwischen.
Schwächen:
Gelegentlich hält der junge Lombarde noch zu lange den Ball und überschätzt dabei seine Fähigkeiten. Doch zusammen mit seinem ausbaufähigen Positionsspiel sind das Mängel, die er im Laufe seiner Karriere durchaus korrigieren kann und als Kritik auf hohem Niveau gewertet werden darf.
Sein Potenzial bleibt immens und die mentale Reife Tonalis beeindruckt gleichermaßen. „Ohne die Opfer, die meine Eltern für mich gebracht haben, wäre ich nicht hier", zeigte sich das italienische Supertalent reflektiert und dankbar. Denn außerhalb des Platzes gilt Brescias Spielmacher als Familienmensch, welcher lieber zu Hause seine Zeit vor der Spielekonsole verbringt, als sich wie viele in seinem Alter im Nachtleben auszutoben.
Zielobjekt für zahlreiche Topclubs
An Angeboten soll es laut zahlreicher Presseberichte schon mal nicht mangeln, denn fast alle großen Klubs aus Italiens höchster Spielklasse haben nach dessen starken Erstligaauftritten (1 Tor und 5 Vorlagen) Interesse an seinen Diensten angemeldet. Nun gilt es für Sandro eine kluge Entscheidung bei der Wahl seines nächsten Arbeitgebers zu treffen.
Dieser wird sich über einen Spieler freuen dürfen, welcher physisch wie mental alles mitbringt, um in den nächsten Jahren Historisches leisten zu können und vielleicht sogar dafür sorgt, dass bald niemand mehr über Andrea Pirlo sprechen wird...