Es war wieder einer dieser Tage, an denen Fußballtrainer am Spielfeldrand stehen und fassungslos die Hände über den Kopf zusammenschlagen. Am gestrigen Sonntagabend muss es Milan-Coach Stefano Pioli wohl genau so ergangen sein, als dieser im Spitzenspiel gegen den AS Rom einen individuellen Schnitzer seiner Mannen nach dem anderen bewundern durfte. Aber fangen wir erstmal chronologisch an.
Die Lombarden starteten nach dem unglücklichen 2:2 gegen Lecce zunächst vielversprechend in die Partie, hatten mehr Spielanteile, lösten sich optimal aus dem Pressing der Gastgeber und erspielten sich die eine oder andere nette Möglichkeit, um in Front zu gehen. Vor allem das knappe Abseitstor von Rafael Leao nach wunderschönem Steilpass von Franck Kessié sollte der Höhepunkt einer attraktiven ersten halben Stunde für die Domstädter stellen.
Kessié verliert Dzeko aus den Augen
Doch es kam anders. Mal wieder. Nach circa 30 Minuten fanden die „Giallorossi“ wieder ins Spiel und die Partie gestaltete sich ausgeglichener, sodass sich in der 38. Spielminute eine Ecke für die „Lupi“ ergab. Zack stand es schon wieder 1:0 für den Gegner. Edin Dzeko durfte, nachdem der Ball durch Teamkollege Mancini abgefälscht wurde, freistehend einköpfen. Der ihm zugeteilte Kessié verbrachte seine Zeit wohl in der Pommes Bude des Stadio Olimpicos. So einfach hatte es der Bosnier diese Saison noch nicht.
Doch anstatt aus diesen Fehlern zu lernen, durften die leidgeprüften Fans der Gäste auch bei den folgenden Standards bewundern, wie die Roma immer wieder, sei es durch Mancini oder Smalling, nach Standards total unbedrängt zum Abschluss kam. Das hatte nichts mehr mit Taktik, sondern mit der Konzentrationsfähigkeit des Einzelnen zu tun.
Calabria macht da weiter, wo Conti aufhört
Mit einem 0:1 ging es dann in die Kabine. Piolis Truppe war nach dem überraschenden Rückstand sichtlich verunsichert. Der ehemalige Lazio-Coach reagierte und brachte Anfang der zweiten Halbzeit Davide Calabria für den überforderten Andrea Conti in die Partie. Zunächst zahlte sich die Einwechslung aus. Denn es war der 22-jährige Italiener, welcher mit seiner Flanke perfekt für Theo Hernandez auflegte. Dieser nahm den Ball gekonnt an und zog volley zum zwischenzeitlichen Ausgleich ab.
Doch war es auch eben jener Calabria, welcher nur wenige Minuten später völlig unbedrängt in der eigenen Hälfte einen kapitalen Fehlpass direkt in die Füße von Edin Dzeko spielte, welcher die Pille zu Roma-Youngster Nicolo Zaniolo weiterleitete, der abgezockt zum 2:1 für die Gastgeber verwandelte. Wieder ein Geschenk, obwohl es bis Weihnachten noch zwei Monate sind. Selbst Leistungsträger und Routiniers wie Biglia und Kessié bekamen im eigenen Sechzehner durch ihre Fahrlässigkeit den Ball abgejagt und verursachten fast weitere Gegentore.
Desolate Zweikampfwerte
Weiterer Diskussionspunkt die Zweikampfführung der Mailänder. Im defensiven Mittelfeld gewann Biglia gerade mal 25 Prozent seiner Zweikämpfe, was für einen Sechser definitiv zu wenig ist. Doch genauso zeigten sich das Innenverteidiger-Duo Mussacchio (20 Prozent) und Romagnoli (25 Prozent) gegen die Roma verunsichert. Gerade in der Luft scheint es Milan noch an Dominaz zu fehlen, denn niemand bekam die Kopfballverlängerung Dzekos gebändigt.
Stefano Pioli, Paolo Maldini und alle anderen bestehen weiterhin darauf, dass es keine Sonderbehandlung mehr gibt und jeder Spieler seinen Platz in der Mannschaft verdienen müsse. Dennoch ist Suso immer der erste Name auf der Liste, welcher seit Monaten seine Form alter Tage vermissen lässt und doch immer wieder in der Startelf steht. Das eindimensionale Spiel des Spaniers scheint entschlüsselt und macht gerade die rechte Flanke der Mailänder berechenbar. Überraschungsmoment 0,0.
Eine Frage der Mentaliät
Zudem scheint es angesichts der Krise in Mailand immer mehr eine Frage der Mentalität zu werden. Routinierte Führungsspieler, die das fragile mentale Rückgrat des Teams stabilisieren, müssen gesucht werden. Denn an den individuellen Aussetzern des Teams wäre wohl jeder Trainer machtlos. Die fünfte Niederlage Mailands in nur neun Runden macht deutlich, mit welchen Problemen der siebenfache Champions-League-Sieger aktuell zu kämpfen hat. An sich ist ein verlorenes Spiel im Olimpico kein Drama, aber nicht, wenn man zwei Tore an eine vom Verletzungspech geplagte und erschöpfte Roma-Mannschaft verschenkt.
Diese trat lediglich mit der Hälfte ihres Stammpersonals an. Überdies spielte Edin Dzeko aufgrund eines gebrochenen Wangenknochens mit einer Spezial-Maske. Die „Giallorossi“ hatten mit Jordan Veretout nur einen gelernten defensiven Mittelfeldspieler im Team, sodass Trainer Paulo Fonseca nur drei Tage nach dem kräftezehrenden Spiel in der Europa League gegen Borussia Mönchengladbach Innenverteidiger Gianluca Mancini zum Sechser umfunktionieren musste.
Roma macht Lust auf mehr
Was die Roma betrifft, so wird Fonseca von der Performance seiner Truppe begeistert sein. Sie waren organisiert, kompakt und arbeiteten sich die Sohlen ab, obwohl fast die Hälfte des Teams fehlte. Die Tatsache, dass sie inmitten einer unglaublichen Verletzungskrise nur einen Punkt vom Viertplatzierten aus Neapel entfernt sind, ist bemerkenswert und gibt Hoffnung für den weiteren Verlauf der Saison. Denn sollte der portugiesische Übungsleiter wieder aus dem Vollen schöpfen können, sollten die Hauptstädter im Kampf um die begehrten Königsplätze noch ein entscheidendes Wörtchen mitreden können.