Die SSC Neapel scheint mit ihrem ersten Scudetto-Gewinn seit 23 Jahren zurück an der europäischen Spitze zu sein. Allerdings steht der Verein diesen Sommer vor einem großen Umbruch, denn nicht nur Trainer Luciano Spaletti verließ den Club direkt nach dem großen Triumpf in der Serie A, auch Schlüsselspieler wie Stürmer Victor Osimhen werden bei anderen finanzstärkeren Clubs derzeit heiß gehandelt. Hier eine Analyse der (noch) aktuellen goldenen Generation der SSC Neapel.
Die ersten goldenen Jahre: Maradona und das magische Dreieck von 1990
Wer kennt ihn nicht? Einen der größten Helden des Weltfußballs: Polarisierend, atemberaubend, ein Spieler zwischen Genie und Wahnsinn und doch einer der größten Fußballer aller Zeiten - Diego Maradona. Jeder, der schon einmal ein paar Minuten eines Fußballspiels verfolgt hat oder weiß, dass man dieses Spiel in der Regel mit dem Fuß spielt und nicht mit dem kleinen Finger, kennt seinen Namen. Doch nirgendwo wurde er außerhalb Argentiniens so sehr wie ein Fußballgott verehrt wie in Neapel, einem Klub, den er über Jahre hinweg maßgeblich geprägt hat wie kein anderer. Selbst das vorher als Stadio San Paolo bekannte neapolitanische Stadion, einer der gefürchtetsten Hexenkessel Italiens, trägt mittlerweile seinen Namen.
Was viele nicht mehr wissen, ist, dass Maradona, so wie beim Gewinn des Weltmeistertitels 1986 mit Argentinien, auch beim letzten Scudetto-Sieg Neapels nur Teil einer goldenen Generation war – einer Generation, wo er am Ende natürlich als der publikumswirksamste Spieler alle überragte. Dennoch gab es zu dem Zeitpunkt mindestens zwei weitere Spieler bei der SSC, denen Maradona einen Teil seines Ruhms definitiv zu verdanken hat: Bruno Giordano und Careca - gemeinsam und angelehnt an die ersten zwei Silben ihrer Nachnamen: "La MaGiCa", das magische Dreieck.
Sie zusammen bildeten zu jener goldenen Zeit der Neapolitaner ein Sturmtrio, was gemeinsam eine Wucht entfalten konnte, welches höchstens noch das Sturmtrio Messi, Neymar und Luis Suarez zu deren besten Barcelona-Zeiten noch toppen konnte.
Keine Spur von dem zu der Zeit in Italien so berüchtigten Catenaccio-Fußball, auch kein taktisch perfekt durchgestylter auf Raumdeckung ausgerichteter Spielstil, wie ihn der ebenfalls zu der Zeit sehr erfolgreiche AC Mailand unter Arrigo Sacchi spielen ließ, sondern schnelle Vertikalpässe, ein für die damalige Zeit extrem hohes Tempo und eine Grundattitüde, die teilweise an den brasilianischen La-Jogo-Bonito-Style erinnerte: Dafür stand zu jener Zeit die SSC Neapel. Was aber macht die heutige goldene Generation Neapels aus, denen das Meisterstück 33 Jahre später nun abermals gelungen ist, sich an die Spitze der Serie A zu schießen?
33 Jahre später: Neapel zum ersten Mal seit Maradona wieder die Nr. 1 in Italien
Am 4.5.2023 konnte die SSC Neapel nach 23 langen Jahren mit vielen Höhen und Tiefen erneut den Scudetto für sich klarmachen. Und wieder sollte man sich diesen Titel mit dem „unitalienischsten“ Fußball erspielt haben, den ein Serie-A-Club seit Jahren präsentiert hat: Begeisternd, risikobereit, auf Ballbesitz ausgerichtet und offensiv. Was noch dazu kommt: Auch diesmal sollte wieder ein magisches Dreieck im Mittelpunkt stehen.
In diesem Fall reden wir allerdings nicht von drei Star-Spielern wie 1990 (zumindest nicht vor der Saison 2022/23), sondern von größtenteils völlig unbeschriebenen Blättern auf dem Fußballmarkt, die noch dazu alle aus Fußballnationen kommen, wo so manch ein argentinischer Maradona-Anhänger vielleicht noch nicht einmal weiß, wo diese überhaupt liegen: Slowakei, Nigeria und Georgien.
Stanislav Lobotka, Victor Osimhen und der georgische Flügelstürmer Khvicha Kvaratskhelia – sind sie also die Anführer einer neuen Goldenen Generation? Einer goldenen Generation, die auch aufgrund ihres jungen Alters und ihres nach wie vor rasant steigenden Marktwerts vielleicht noch nicht einmal ihre absolute Prime erreicht hat?
Die "Osi-KvaLo"-Gang - Das „MaGiCa“ Trio von 2023?
Lobotka, Osimhen und nicht zuletzt Kvaratskhelia – der Spieler, dessen Namen nicht einmal eingefleischte Neapel-Fans aussprechen können, weswegen sie ihn zumeist nur „Kvaradona“ oder liebevoll „Zizi“ nennen, welches laut eigener Aussage auch sein eigentlicher Spitzname ist: Das sind sie also – die neuen „MaGiCa“s von 2023.
Mittelstürmer Victor Osimhen wäre dabei noch am ehesten als klassischer 9er zu bezeichnen und zählt derzeit zu den teuersten und heißbegehrtesten Stürmern Europas (so begehrt, dass selbst der große FC Bayern, der doch diesen Sommer so dringend einen neuen Robert Lewandowski braucht, schon Abstand von einer Verpflichtung genommen hat.)
Diese Tatsache scheint umso unglaublicher, wenn man bedenkt, dass Osimhen in der Saison von 2017/2018 beim VFL-Wolfsburg mit 12 Einsätzen und 0 Toren als einer der größten Transferflops der Bundesligageschichte galt. Zum Vergleich – für die SSC Neapel kam er seit 2020 in 78 Spielen auf ganze 46 Tore. Dies ist ein Wert von im Schnitt einem Tor in weniger als 180 Minuten. In der aktuellen Saison kam er sogar auf 28 Tore in 36 Spielen, das heißt er schoss in so gut wie jedem Spiel mindestens ein Tor.
Ebenso niemand auf dem Zettel hatte vor der aktuellen Saison den 22jährigen Georgier Khvicha Kvaratskhelia – Dinamo Tiflis, Rubin Kasan, FC Rustawi und der FC Dinamo Batumi, dies sind die Clubs, für die „Kvaradona“ vorher seine Schuhe schnürte. Zuzüglich sollte er als Flügelstürmer und sich zwischen den Halbräumen bewegender 10er auch noch den zuvor aus Neapel abgewanderten italienischen Nationalspieler Lorenzo Insigne ersetzen, ein Druck, der für Kvaratskhelia größer hätte kaum sein können.
Dennoch entwickelte sich "Kvaradona" zum sofortigen Publikumsliebling, erinnerten doch insbesondere seine aberwitzigen Solodribblings oft an die argentinische Vereinslegende von 1990. Auch neben dem Platz wusste er mit seinem Humor durchaus zu unterhalten, so gründete er beispielsweise im Netz ein Tutorial, wo er den Fans wie in einem Duolingo-Onlinesprachkurs beibrachte, seinen vollen Namen, wie auch andere komplizierte Wörter in seiner Heimatsprache richtig auszusprechen.
Bei diesem magischen Dreieck geht dann der Dritte im Bunde fast ein bisschen unter. Dennoch sind sich die meisten Experten einig, dass kaum ein Spieler für den Erfolg der SSC so entscheidend mitverantwortlich war wie Stanislav Lobotka (28). In der Gazzetta dello Sport verglichen ihn einige Italienische Experten sogar mit Real-Madrid-Mittelfeldmotor Luka Modric, nicht zuletzt aufgrund seiner oft tödlichen Pässe in die gefährlichen Strafraumzonen.
Die südkoreanische Mauer und das italienische Sturmfeuerwerk
Doch auch ein weiterer Spieler darf in der Erfolgsgeschichte der Neapolitaner natürlich nicht ungenannt bleiben: Der südkoreanische Nationalspieler und Abwehrorganisator Min-Jae Kim, mittlerweile auch beim FC Bayern ein Gesprächsthema. Mit insgesamt 171 abgefangenen Pässen ist er in dieser Statistik Nummer drei in der Rangliste aller Abwehrspieler in den fünf europäischen Top-Ligen und wurde damit, wohlgemerkt als Verteidiger, 2023 zu Italiens Fußballer des Jahres gewählt.
Und eine italienische Achse für die die Neapolitaner als stark heimatverbundener Club immer berühmt waren? Diese findet sich tatsächlich erst auf dem zweiten Blick. Dennoch waren auch die Stürmer Matteo Politano und Giacomo Raspadori, mal in der Startelf, mal als Joker eingesetzt, ein nicht unerheblicher Teil von Neapels zum Teil fast überrumpelnden Offensive. Oft wurden sie hierbei von Giovanni Simeone unterstützt – ausgerechnet von dem Spieler, dessen Vater (Diego Simeone, seit 2011 Cheftrainer bei Atletico Madrid) wie kein ein anderer Trainer auf der Welt für gnadenlosen Defensivfußball steht.
Komplettiert wurde das Spiel der Neapolitaner schließlich vom italienischen Schlussmann Alex Meret, der sich sowohl am Spielaufbau beteiligte, als auch über weite Strecken für eine sattelfeste Strafraumabsicherung stand. Mit seinen gerade mal 23 Gegentoren sorgte er dafür, dass selbst Kontermannschaften, von denen es in Italien bekanntlich sehr viele gibt, der SSC so gut wie nie gefährlich werden konnten.
🎥 #NapoliChievo 2-0: gli highlights dell'andata ⚽ @SerieA_TIM #ForzaNapoliSempre pic.twitter.com/BMcc4bWI8K
— Official SSC Napoli (@sscnapoli) February 18, 2017
Titelverteidigung oder Einkaufstheke der Big Money Players? Wie geht es weiter mit der SSC?
Somit bleibt abschließend nur die Frage: War und ist diese goldene Generation eine Eintagsfliege oder der Anfang einer künftigen sich auch noch die nächsten Jahre durchziehenden Wachablösung aus dem italienischen Süden? Eine Gefahr für die Stadt am Fuße des Vesuvs könnte hier darin liegen, dass zwischen den beiden Top-Scorern der Mannschaft und Platz drei eine dann doch recht große Lücke klafft.
Denn belegen die beiden Top-Scorer (Torschützenkönig Osimhen mit 27 Scorerpunkten und Kvaratskhelia mit 22 Scorerpunkten) derzeit beide die Top 3 der Türschützenliste der italienischen Liga, so ist der offensiv drittstärkste Spieler Piotr Zielinski mit 10 Scorer-Punkten nur auf Platz 30 zu finden.
Man ist also extrem abhängig von seinen Top-Stars und die Gefahr ist somit durchaus gegeben, dass der Verein - sollte die SSC diese beiden Spieler oder auch nur einen von ihnen im Sommer verkaufen - den offensiven Qualitätsabfall dann doch so leicht nicht kompensieren kann. Zudem verlässt mit Luciano Spalletti der Meistertrainer den Klub, ein schwerer Verlust nach einer grandiosen Spielzeit.
Allerdings - das hat man Ende der Saison 2021/22 nach dem Abgang des vorherigen Sturmduos Dries Mertens und Neapel-Legende Lorenzo Insigne auch schon befürchtet – und wurde schnell eines Besseren belehrt. Es wird aber maßgeblich auch von Vereinspräsident (und Filmemacher) Aurelio de Lorentiis und einer klugen Transferstrategie abhängen. Wie groß ist sein Ehrgeiz die Meisterschaft auch in der nächsten Saison zu verteidigen? Und wie lange wird er dabei astronomisch-hohen Mond-Angeboten von sich finanziell nach wie vor in völlig anderen Sphären aufhaltenden Vereinen wie Manchester City oder Paris St. Germain widerstehen können? Angesichts eines schon vor dieser Saison bereits erfolgreichen vollzogenen Umbruchs ist die Wahrscheinlichkeit aber durchaus hoch, dass selbst beim Abgang der Starspieler die SSC Neapel - nach vielleicht einer Saison Selbstfindungsphase - spätestens in zwei Jahren wieder ganz oben im Rennen um den Scudetto mitspielen könnte.